Hypo-Hund im Einsatz

Ein Diabetiker, sein Hund und eine Bramscher Praxis

Von Hildegard Wekenborg-Placke

Bramsche/ Mettingen. Heiko Hansen ist seit mehr als 20 Jahren Diabetiker. Oft sinken seine Blutwerte bedrohlich ab, er droht, das Bewusstsein zu verlieren, ohne dass er selbst die Anzeichen noch wahrnimmt. Seit zwei Jahren hat er deshalb Warnhündin Ganja an seiner Seite und fühlt sich viel sicherer.

Assistenzhunde für Diabetiker sind noch relativ selten und weit weniger bekannt als beispielsweise Blindenhunde. Den

Kontakt zu dem Mettinger Softwareentwickler hat der Diabetologe Dr. Ewald Jammers vermittelt, der mit seinem Kollegen Dr. Tim Wohlberedt die Bramscher „Zuckerpraxis“ betreibt und sich seit Jahren mit dem Thema „Hypo-Hunde“ beschäftigt. „Hypo“ wie Hypoglykämie (Unterzuckerung), weil die Vierbeiner auf den besonderen Geruch geschult werden, den Menschen mit bedrohlich niedrigen Blutzuckerwerten verströmen. Seit geraumer Zeit ist Hansen in Bramsche in Behandlung, „weil ich hier den Hund mit in die Praxis nehmen darf“. Nur das Labor ist natürlich tabu.

Ganja mag alle Menschen

„Der Hund“ - das ist „Ganja“, eine knapp zwei Jahre alte, pechschwarze, äußerst lebhafte Flat-coated-Retriever-Hündin. Ein freudiges Bellen empfängt den Besucher. „Ganja“ mag eigentlich alle Menschen. Aber plötzlich wird die Hündin ein bisschen unruhig - anders unruhig als während der Begrüßung. Sie kratzt an Heiko Hansens Bein, immer wieder, dann dreht sie ab, holt ein Täschchen im Raubtierprint, den „Tiger“ und bietet es Hansen an, unter weiterem Kratzen. „Da muss ich ja wohl mal messen“, kommentiert Hansen. Der „Tiger“ enthält das Blutzucker-Messgerät und einen kleinen Vorrat an Traubenzucker als Notfallration. „Eigentlich habe ich gar nicht das Gefühl zu unterzuckern, aber bei Stress oder körperlicher Anstrengung kommt das schon einmal vor. Schließlich habe ich hier gerade noch aufgeräumt“, lacht er . Die Werte sind noch normal. Aber das bedeutet nicht unbedingt Entwarnung. „Ganja meldet sich manchmal schon eine Stunde, bevor die Werte wirklich absacken oder zu hoch werden“. Das gilt nicht nur für Herrchen“, auch bei Fremden hat Ganja schon gewarnt.

„Man wird unruhig, fängt an zu schwitzen, bekommt Gleichgewichtsstörungen“, beschreibt Hansen die Anzeichen der Blutzuckerentgleisungen - wenn er sie denn

noch wahrnimmt. Meist ist das nicht mehr der Fall. „Das ist das Tückische an der Unterzuckerung“, bestätigte Dr. Jammers. Eine schwere Unterzuckerung ist für den Laien nur schwer von einem Alkoholdelirium zu unterscheiden. Die Ablehnung durch die Mitmenschen, die glauben, einen Alkoholiker oder Junkie vor sich zu haben, wirke traumatisierend auf den Diabetiker. Sie stigmatisieren den Kranken zusätzlich, für den es ohnehin belastend ist, dass es „keinen Urlaub vom Diabetes“ gibt, beschreibt Jammers das jahrzehntelange Leiden seiner Patienten. „Wenn ein Hund dabei ist, der als Assistenzhund erkennbar ist, gehen Menschen ganz anders auf den Kranken zu“, sagt Jammers.

Der Diabetes bestimmt das Leben

Auch bei Heiko Hansen bestimmt der Diabetes seit 20 Jahren das Leben. Als sich die Erkrankung erstmals bemerkbar machte, steckte der Student der Wirtschaftspädagogik und Mathematik gerade im Examen. Er hatte ständig Durst, trank bis zu sechs Litern am Tag, „weil der Körper ja den Zucker ausschwemmen will“, und verlor rapide an Gewicht. Mit 55 statt der gewohnten 85 Kilo wurde er stationär

aufgenommen .Immer wieder hatte er den Gang zum Arzt hinausgezögert. „Erst als ich aus meiner Dachgeschosswohnung kaum mehr die Treppe hinunterkam, weil mir die Beine wegknickten, habe ich mich aufgerafft“, erzählt er. „ Wahrscheinlich war ich kurz vor dem Koma“. Der Zuckerwert lag bei 800, normal sind etwa 100. Zusätzlich zum Diabetes entwickelte Hansen eine schwere Polyneuropathie. Die Nervenschmerzen ließen ihn kaum mehr als zwei Stunden am Stück schlafen. Hansen brach das stressige Studium ab, machte eine Ausbildung zum Softwareentwickler, der Beruf, den er auch heute noch ausübt. Mit den Jahren kamen die Unterzuckerungsanfälle immer öfter. Auch nachts häuften die Attacken. Morgens wachte er manchmal schweißgebadet neben dem Sofa auf. „ Ich muss dann wohl bewusstlos gewesen sein“, glaubt er. So konnte es nicht weitergehen.

Trainerin: Prinzipiell ist jeder Hund geeignet

Nach dem Besuch einer Fachmesse und intensiven Internetrecherchen stieß er schließlich auf das Hundezentrum Siegerland der Trainerin Uschi Loth, die auch

Assistenzhunde für Diabetiker schult. Für den Mettinger hatte die erfahrene Ausbilderin eine ganz wichtige Auskunft parat: „Prinzipiell ist jeder Hund geeignet, er muss nur aufgeweckt und nicht aggressiv sein“.

Üben mit dem Läppchen

Hansen nahm Kontakt zu Züchtern auf. Ein „Flat coated-Retriever“, also ein Retriever mit kürzerem Fell, sollte es sein. Am 13. Juni 2014 wurde „Ganja“ geboren. Bei Herrn und Hündin „stimmte die Chemie“ sofort und das ist unverzichtbar„Ganja“ war elf

Wochen alt, als die Ausbildung auf dem ehemaligen Militärgelände im Siegerland begann. „Die Tiere werden zunächst auf den Hypo-Geruch konditioniert“, erzählt Hansen. Dazu musste er während einer schweren Unterzuckerung ein frisches T-Shirt anziehen, das dann den Geruch annimmt. Es wurde zerschnitten und eingefroren. Mit diesen Läppchen wird dann geübt. Der Hypo-Hund lernt, seinem Besitzer ein bestimmtes Zeichen zu geben, ihn zu kratzen, zu stupsen, zu bellen, immer gleich, damit die Botschaft klar ist. Ganja begreift schnell. Nur zu Beginn gibt es einen Zwischenfall. Hansen unterzuckert. Die Hündin weiß, dass etwas nicht stimmt, aber noch nicht, was zu tun ist. Panisch verkriecht sie sich in ihre Box, während ihr Besitzer bewusstlos neben dem Sofa liegt. Aber das ändert sich schnell. „Als Ganja dann fünf Monate alt war, hat sie bereits das erste Mal nachts angezeigt“, lobt Hansen seine gelehrige Hündin. „Sie versuchte, wie gelernt, zu kratzen, als das nichts brachte, hat sie geschleckt. Mittlerweile zieht sie mir die Decke weg“. Das Frühwarnsystem funktioniert. „Seit sie das kann, hatte ich keine schwere Unterzuckerung mehr“, wiederholt Hansen immer wieder. Als Belohnung gibt es dann ein Leckerli. Auf das Kommando „Chill out“ macht Ganja Pause und kaut normalerweise hingebungsvoll auf einem Stück Hirschgeweih herum.

Kein Geld von der Krankenkasse

„Normalerweise“ - sagt Hansen. Nur einmal wollte die kluge Hündin nicht hören. Beharrlich ignorierte sie das „Chill out“, kratzte immer wieder an Hansens Bein. „Ich hatte schon Traubenzucker genommen und ein paar Kekse gegessen. Das hätte eigentlich reichen müssen. Aber sie hat nicht locker gelassen, bis ich nochmals gemessen habe. Die Werte waren noch weiter abgefallen. Das hat sie gut gemacht“. Heiko Hansen ist immer noch dankbar.

Seine „Ganja“ und ihre Ausbildung hat Hansen übrigens aus eigener Tasche bezahlt. Für die Krankenkassen gelten die „Führerhunde“ nicht als zugelassenes Hilfsmittel. Nur in Einzelfällen, beispielsweise bei schwer diabeteskranken Kindern, beteiligen sie sich an der Finanzierung.

 

28.08.2016 Osnabrücker Zeitung

Mit freundlicher Genehmigung der Zeitung und von Heiko Hansen